30.1.17 (Veröffentlicht Okt. 2014) Ein Kurzeinsatz aus dem Bereitschaftsdienst nach Mumbai – jetzt muss es schnell gehen, Kamera in den Koffer, Uniform an, Herrschaft, wo ist denn nochmals Autan Tropical, ohne Mückenschutz flieg ich nicht, einmal Denguefieber und Tropenkrankenhaus reicht, wo krieg ich jetzt noch ein Mitbringsel für meine Patenkinder her, sehe ich sie überhaupt? Muss klappen, also noch schnell eine Mail an Schwester Zelia und schön wärs, wenn Kishor, der Fahrer Prem Dans, mich morgen früh vom Hotel abholen könnte. Ich muss jetzt wirklich los, bin ja übermorgen früh schon wieder zurück.
Vor Ort bleibt bei einem 24 Stunden Einsatz natürlich wenig Zeit. Um so schöner, dass Kishor mich pünktlich im Hotel abholt, ein Treffen mit meinen beiden Patenkindern klappt und sogar Madhavi, mein allererstes Patenkind, heute erfolgreiche Managerin einer Consultingfirma auf einen Sprung in der Garden School vorbeischaut. Wie immer werde ich in von Schwester Zelia und den Köchinnen Prem Dans zum Lunch kulinarisch verwöhnt. Auch auf Schwester Felicity, die Gründerin Prem Dans, ist Verlass. Trotz ihres hohen Alters ist sie wie jeden Tag im „Headoffice“ präsent. Queenie, Prem Dans Sekretärin ist ebenfalls anwesend. Wir klären ein paar Verwaltungsfragen und unterhalten uns beim Mittagessen in großer Runde über die letzten Entwicklungen bei Prem Dan, in Mumbai und Indien (Dazu mehr im nächsten Update im November). Danach husche ich noch im Schnelldurchgang durch die Klassenräume der Garden School, freue mich in Arunas Klasse einige Fotos zu schießen. Nehme mir eine Stunde Zeit für meine Patenkindern. Dann noch ein paar Minuten Fussball mit einigen Jungs gespielt (.. nicht zu fassen…keiner von denen kennt Schweinsteiger! Messi, Ronaldo dagegen schon.. wissen die überhaupt wer Weltmeister ist? Entwicklungsland…..), einen Kaffee mit Madhavi und Aruna im nahe gelegenen Leopolds Cafe getrunken und dann gehts schon wieder zurück ins Hotel. In ein paar Stunden Abflug nach München. Alles wie immer also auf einem Mumbai Einsatz? Kurz, herzlich und aufregend? Kurz ja, herzlich wie immer, aufregend in vielerlei Hinsicht!
Ja, denn je öfter ich nach Indien fliege, dies tue ich nun seit 20 Jahren regelmäßig, desto öfter rege ich mich auf und desto weniger verstehe ich, warum in diesem Land, in dieser Stadt nichts voran geht, eine Verbesserung der Lebensumstände von Millionen Kindern und Familien in den Armenvierteln einfach nicht eintritt oder höchstens in homöopathischen Dosen sichtbar wird. Sichtbar wie der Dreck auf den Straßen, sichtbar wie das Elend der Menschen, die in den gleichen Verschlägen wie vor 20 Jahren unter unglaublichen hygienischen Bedingungen leben, besser vegetieren müssen. Seit Jahrzehnten vernachlässigt dieses Land seine Armen auf kriminelle Weise. Es k… mich wirklich an (sorry)! Nein, ich kann und will mir nicht vorstellen, wie ein Leben in den Elendsvierteln, an denen wir auf dem Weg vom und ins Hotel vorbeifahren, wohl aussieht, ich will es eigentlich auch gar nicht mehr sehen! Welche Perspektiven haben diese Menschen, diese Massen im Dreck der Straßen und Slums lebenden Kinder Mumbais? Warum tut sich hier nichts, mitten in den „besten“ Stadtteilen von Indiens Finanzmetropole, warum sehe ich hier nie so etwas wie eine Müllabfuhr, warum gibt es in den Slums keine Trinkwasserversorgung, keine sanitären Anlagen. Warum kümmert sich keiner, gibt es keine gebildeten, engagierten, empathischen Inder, über den Tellerrand blickende Menschen, Verantwortliche, die die simpelsten Zusammenhänge und Auswirkungen z.B. eines funktionierenden Abfallentsorgungsystems auf die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit erkennen, von Bildung und Einkommen auf wirtschaftliche Entwicklung und menschenwürdige Lebensverhältnisse. Ja, der neue Premier Modi hat mit einem Besen in der Hand jetzt medienwirksam eine Imagekampagne für mehr Hygiene und Sauberkeit gestartet. Die Hälfte der Inder hat offiziellen Schätzungen zufolge keinen Zugang zu Toiletten. Was passiert hier eigentlich, wenn es den ersten Ebolafall gibt. Die Hölle hoch zwei?
Jedes zweite Kind ist in Indien unter- oder mangelernährt ( sehenswerter Beitrag von Klaus Kleber dazu in der ZDF Mediathek zum Thema Hunger in Indien aus dem Heute Journal vom 13.10.2014 – http://www.zdf.de/ZDFmediathek/kanaluebersicht/228#/beitrag/video/2259896/Vorstellung-des-Welthungerindex%27-2014). Indien startet Marssonden, zählt sich selbst zu den globalen Schwergewichten, nennt sich die weltweit größte Demokratie. Doch wo bleiben aus der Menschenwürde hergeleitete Grundrechte, tätige Solidarität, Verantwortung, Werte also, auf denen jede Demokratie gründet? Sind diese Begriffe nur Sache der unzähligen kleinen Nicht-Regierungs-Organisationen wie Prem Dan, der Ärtzte ohne Grenzen, Plan und vieler, vieler anderer? Warum verharren 600 Millionen Inder immer noch in allertiefster Armut. Ist es der tief empfundene Stolz der Mittel- und Oberschicht Indiens, der politischen Kaste, die sich am eigenen relativem Reichtum hinter Mauern mehr ergötzen als an einer gerechten Gesellschaft? Ist es das religiöse begründete ausgrenzende Kastensystems, ein perfektes Apartheitssystem. Wann immer ich mich mit wohlhabenden Indern oder mit meinen indischen Kollegen über diese Themen unterhalte, empfinde ich verletzten Stolz, eine seltsame Unempfänglichkeit oder den fehlenden Mut sich der Wahrheit zu stellen. Kann es denn wahr sein, dass lokale Politiker den Slumbewohnern lieber Satellitenschüsseln und billige Fernseher gegen Stimmen schenken, anstatt sich um die Basics, die absoluten Grundvoraussetzungen für ein menschen- und lebenswertes Dasein der Bevölkerung kümmern?
Indien ist voller krasser Widersprüche, aber ein hoffnungsloser Fall? Kann sein, aber ich will das nicht akzeptieren, ich kämpfe mit mir, ich kenne die Geschichten unserer Patenkinder, das unglaubliche und unerschütterliche Engagement des Teams von Prem Dan. Was im Kleinen funktioniert müsste doch auch im Großen irgendwie klappen.
Zweifel bleiben, die Wut auch, auch jetzt als ich die aufgestellten Rattenfallen in den Eingängen des prächtigen Marmorpalastes des neuen Terminals des Mumbaier Flughafens sehe. „May I take a photo?“ „No Sir, photos are strictly forbidden!“ Ja ich weiß, Augen zu und Elend ausblenden ….. ich reg mich lieber ab, muss gleich noch ein Flugzeug fliegen…..
Good Night india!