Das Jahr 2023, kaum hat es begonnen, neigt sich schon wieder dem Ende zu. Die Zeit, so scheint es, vergeht zum Jahresende immer besonders schnell. Weihnachten steht schon wieder vor der Tür und zahlreiche Punkte auf der To-Do Liste mit all den noch zu besorgenden Geschenken sind noch nicht abgehakt, die Feiertage müssen noch organisiert werden, die ein oder andere Weihnachtsfeier steht auch noch an und das Ehrenamt beansprucht gerade jetzt viel Zeit. In den Adventswochen komprimiert und summiert sich vieles. Wer schafft es schon diesem Stress aus dem Weg zu gehen, die Ansprüche herunterzuschrauben oder den eigenen Perfektionismus auszuschaltet?
Von der viel beschworenen besinnlichen Vorweihnachtszeit bleibt wie immer nicht viel übrig. Und man gelobt im nächsten Jahr aber wirklich mal alles ganz anders anzugehen. Ganz bestimmt!
In dieser hektischen, alles anderen als weihnachtlichen Stimmung hat mich vor ein paar Tagen eine WhatsApp Nachricht aus Mumbai erreicht, die mich zum Innehalten und Nachdenken gebracht hat.
Die Nachricht Arunas (sie ist Lehererin an der Garden School und versorgt uns verläßlich mit Updates und aktuellen Fotos aus Mumbai) war kurz, bestand aus zwei Fotos und ein paar kurzen Infos. Die zwei Fotos zeigen einen kleinen Jungen in der Garden School. Er heißt Vijay Rajput, ist kaum größer als sein Schulranzen und fünf Jahre alt. Vijay besucht wie 200 andere Kinder aus den Slums und Armenvierteln Mumbais eine der Vorschulklassen Prem Dans. Er hat fünf Schwestern und einen Bruder. Seine Eltern sind Tagelöhner und wohnen in einem aus Holzlatten und Plastikfolien zusammengeflickten Verschlag in Nähe eines Straßenmarktes im Stadtteil ‚Fort‘. ‚Fort‘ ist ein besserer Distrikt in Mumbai. Es leben dort viele Wohlhabende die sich an der Armut auf den Straßen stören und regelmäßig versuchen die Armen in ihrer Umgebung aus ihren primitiven Unterkünften zu vertreiben. Mit Billigung der Behörden zerstören Bulldozer ohne Vorankündigung die schäbigen Verschläge der Armen. Vijay weiß also nie, ob er nach der Schule seine Familie noch am alten Ort vorfindet und abends ein Dach (Folie) über dem Kopf hat.
Ich muss zugeben, diese Nachricht und das Foto Vijays, der noch am Anfang seines Lebens steht, haben mich, obwohl ich seit über 20 Jahren regelmäßig in den Slums Mumbais bin und Geschichten wie die von Vijay zuhauf kenne, ziemlich berührt. Ich saß, als ich diese Nachricht erhielt, in einem schicken Café in München, neben mir Tüten voller Weihnachtsgeschenke, vor mir eine leckere Torte und draußen vor dem Fenster zogen Menschenmassen mit vollen Tüten im Einkaufsrausch vorbei.
Was würde Vijay denken wenn er das hier sehen würde, was würde er sagen, wenn er von unseren Sorgen im Weihnachtsstress wüsste und was würde er sich wohl zu Weihnachten wünschen? Was würde auf seinem Wunschzettel stehen?
Ein festes Dach über dem Kopf, Arbeit und ein regelmäßiges Einkommen für die Eltern, immer etwas zu essen zu haben, weiterhin zur Schule gehen zu dürfen und einen sicheren Platz zum Spielen mit Freunden… Ich weiß natürlich nicht, ob er sich das so wünschen würde, ich vermute es nur.
Was ich jedoch weiß, ist, dass Vijay nicht alleine ist, dass er sich bei Prem Dan in guten Händen befindet, durch Aruna und die Ordensschwestern Prem Dans menschliche Zuwendung erfährt, ein sicheres Umfeld hat, sich täglich satt essen kann, eine Schule besucht und Freunde hat.
Vijay hat noch keinen persönlichen Paten. Dieser wird ihm, sofern einer gefunden werden kann, (wegen des Schulgeldes) erst mit Übertritt in die erste Klasse an einer anerkannten Schule zugeteilt. Die Hilfe, die er jetzt erfährt, wird aus dem allgemeinen Spendentopf Prem Dans finanziert. Dieser reicht natürlich nicht, den vielen Kindern und ihren Familien einen festen Wohnsitz, eine kleine Wohnung zu finanzieren. Die Hilfe durch unsere Partnerorganisation ist begrenzt und doch spendet sie so viel Sicherheit, Lebensmut und die Chace auf ein besseres Leben. Gerade für die Entwicklung der Kinder, die einfach das Pech hatten, in extreme Armut hineingeboren worden zu sein, ist das Gefühl geborgen und wahrgenommen zu sein so wichtig.
Lichterglanz, Gedränge und volle Einkaufstüten hier und ein kleiner Junge ohne sicheres Zuhause dort. Warum entscheidet der Geburtsort maßgeblich das Schicksal? Hat nicht jedes Kind eine Chance auf ein gutes Leben verdient? Manche Widersprüche sind schwer zu ertragen. Die Gedanken an Vijay, an seine Familie und an das Team von Schwester Helen rücken bei mir in diesem Moment einiges zurecht. Sie kicken mich förmlich mit Schwung aus dem Hamsterrad des Weihnachtswahnsinns. Und ich meine, dass es wohl kein Zufall ist, dass die Nachricht Arunas mich gerade jetzt erreicht hat. Wie passend, kurz vor den Festtagen wird in ihr eine Weihnachtsbotschaft in der Person des kleinen Jungen Vijays sichtbar. Ein Aufruf und eine Nachricht aus dem Off, die wir auch mit der Weihnachtsbotschaft und der Geburt und dem Leben eines anderen kleinen Jungen aus Bethlehem verbinden: Teilen, ein offenes Auge und Herz für die Situation und Nöte der Mitmenschen, der Unsichtbaren, Ausgegrenzten und Stigmatisierten zu bewahren und für die Schwächsten da zu sein. Helfen lohnt sich, dem dem geholfen wird als auch dem der hilft. Es scheint fast ein Grundbedürfnis zu sein. Warum sonst engagiert sich jeder zweite über 14 Jahren ehrenamtlich?
Sicherlich, Zweifel sind erlaubt, wir können die Welt mit dem was wir leisten können, unserem ehrenamtlichen Engagement im Förderverein, bei der freiwilligen Feuerwehr oder bei der lokalen Tafel nicht retten. Für Vijay, der kaum größer als sein Schulranzen ist und seine Leben noch vor sich hat, ist unsere Hilfe und Mitgefühl allerdings etwas Großes und ganz Entscheidendes.
Viel entscheidender als die Frage, ob mir jetzt wirklich nichts mehr für ein perfektes Weihnachtsfest fehlt. Mut zur Lücke! Danke Vijay!