milleniumsziele sylvester 2000

30.1.17 (veröffentlicht 2010)Zugegeben, es ist schon etwas länger her… nun gut, wir befinden uns hier ja auch in unserem Archiv… Aber erinnern Sie sich noch an den Sylvester 2000, an den Beginn des neuen Jahtausends vor vielen Jahren? Erinnern Sie sich vielleicht auch noch an die Sorge um den drohenden Absturz der weltweiten Computersysteme und Flugzeuge durch den so genannten Millenniumsbug, das Jahrtausendfeuerwerk am Brandenburger Tor oder das 2000 Gramm mächtige Millenniums Nutella Glas? Das besondere Datum und das bedeutungsschwere Wort ‚Millenninum‘ entfaltete vielerlei Aktivitäten. Auch die Vereinten Nationen nahmen den Jahrtausendwechsel zum Anlass, die Lösung weltweiter Probleme verstärkt in Angriff zu nehmen. In den so genannten UN-Millenniumszielen vereinbarten 149 Länder im September 2000 unter anderem eine Halbierung der weltweiten Armut, des Hungers und eine Grundbildung für alle Kinder bis zu Jahr 2015. Wie sieht die Zwischenbilanz zehn Jahre danach in einem Land aus, das nicht müde wird, sich selbst auf die Schulter zu klopfen, weil es 40 Milliardäre hat. Welche Entwicklung hat Indien in den letzten zehn Jahren genommen?

 

Die Zahlen, die im Zusammenhang mit Indiens Wirtschaft in den letzten Jahren genannt werden sind zunächst einmal recht beeindruckend. Sie zeigen, dass Indien sich auf dem richtigen Weg befindet. Das Wirtschaftswachstum liegt im Schnitt bei 8%, die Mittelschicht, die Zahl der Menschen also, die sich einen Fernseher oder einen Kühlschrank leisten können, wird heute auf ca. 200 Mio. geschätzt, die Einschulungsquote für Schüler ab Klasse 5.- 12. ist auf knapp über 50% gestiegen ( Quelle: Deutsche Bank Research). Die Aussichten sind in Folge einer weiteren Liberalisierung und Deregulierung, der Öffnung der Binnenmärkte für ausländische Investitionen und des enormen Nachholbedarfs weiter sehr positiv. Setzt man die hier genannten Zahlen jedoch in Relation zur Gesamtzahl der Bevölkerung (1,15 Mrd.) und zu anderen ökonomischen Kennzahlen, wird die wahre Lage Indiens im Jahr 2010 ersichtlich.

reay 23Das durchschnittliche jährliche Prokopfeinkommen (kaufkraftbereinigt) der Inder liegt bei € 700, in Deutschland bei €23.000. Fast 400 Millionen Inder leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze von € 1 pro Tag und 700 Millionen müssen mit weniger als 2 Euro am Tag klar kommen. Indien zeigt erhebliche Defizite in der sozialen Infrastruktur, belegt Platz 132 von 177 auf dem UN- Human Development Index und liegt bei vielen Sozial- und Wirtschaftsindikatoren noch hinter Sub-Sahara Staaten. Vier von Zehn Indern können zum Beispiel nicht lesen und schreiben.

Indien gehört mit Nigeria, der Demokratischen Republik Kongo sowie Pakistan und China zu den Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeit. Jeden Tag sterben auf dem indischen Subkontinent 5000 Kinder unter fünf Jahren, weil sie nicht genügend Nahrung, ausreichend sauberes Wasser oder primitive medizinische Hilfe erhalten (u.a. SZ, 17.September 2010). Von den 26 Millionen Kindern, die in Indien jährlich geboren werden, erleben 1.8 Millionen den fünften Geburtstag nicht (The Hindu „Huge inequity in child mortality rates“ -07.09.2010).Was diese Zahl nicht enthüllt sind die Ungleichheiten der Sterblichkeit zwischen den sozialen Schichten. Sie ist in den untersten Schichten dreifach höher als in der Mittel- und Oberschicht. Kindersterblichkeit wird oft als das beste Barometer der sozialen und ökonomischen Entwicklung eines Landes beschrieben. Auch der UN-Welthunger-Index 2009 teilt Indien der Gruppe der Länder zu, in denen Hunger, Mangelernährung und eine hohe Kindersterblichkeit Großteile der Bevölkerung bedroht (Spiegel 20.9.2010 / FR 18./19. September 2010).

Die Bilanz des Auswärtigen Amts aus 2009 fällt eindeutig aus: „Indien ist ungeachtet überdurchschnittlicher Wachstumsraten weiterhin kinder 21 03kinder_21_03.jpgein Entwicklungsland“ ( www.Auswärtiges Amt.de).

Wie sind all diese Zahlen, die anlässlich einer Zwischenbilanz auf dem UN- Armutsgipfel im September 2010, erneut in den Fokus und in die Medien gelangten, zu erklären? Hat Indiens Wirtschaftsboom keine nachhaltigen Auswirkungen auf Indiens Gesellschaft?

Leider noch nicht. Jedes Jahr müssten allein aufgrund des Bevölkerungswachstums 13 Mio. neue Ausbildungsplätze entstehen. Tatsächlich sind es 2,5 Mio. Die Beschäftigungseffekte des Wachstums sind bislang ausgeblieben. Die notwendige Schaffung neuer, vor allem auch niedrigqualifizierter Arbeitsplätze in Industrie und verarbeitendem Gewerbe, stagniert seit Jahren. Welches bei uns vertriebene indische Industrieprodukt fällt Ihnen ein? Mobiltelefone, Autos, Investitionsgüter (Maschinenbau), Konsumgüter etc.? Der vor allem bei uns wahrgenommene Boom in der IT- und Dienstleistungsbranche (Outsourcing) gleicht die Schwäche des produzierenden Sektors bei weitem nicht aus. Das Potential in Forschung unsd Entwicklung, welches durch wenige Spitzenuniversitäten durchaus vorhanden ist, schlägt sich im industriellen Bereich noch nicht nieder. Nur jeder zehnte Beschäftigte steht in einem geregelten Arbeitsverhältnis. Die anderen 90% arbeiten im sog. informellen Sektor, ohne Absicherung gegen Krankheit, Arbeitsunfälle und Altersversicherung.

Auch im Bildungssektor gibt es eine Dekade nach Verabschiedung der Milleniumsziele noch erheblichen Aufholbedarf. Insbesondere der Grundschulsektor hält mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt und kann bestehende soziale Ungleichheiten nicht ausgleichen. Trotz allgemeiner Schulpflicht besuchen viele Kinder keine Schule. Wie will man die in der Verfassung stehende Grundschulpflicht in Elendsvierteln eigentlich durchsetzen, ohne Einwodermeldeämter, ohne Bevölkerungsstatistiken etc.? Die Schulen leiden unter schwacher finanzieller und materieller Ausstattung und dem Fehlen einer fundierten und modernen Lehrerausbildung. Indiens Regierung hat mittlerweile auf die zukunftsgefährdenden Missstände reagiert und beginnt die Ausgaben für Bildung zu erhöhen.

Indiens Aussichten sind trotz dieser immer noch bestehenden gravierenden Unterentwicklung dennoch aussichtsreich. Weiterhin sprechen die Prognosen von einem stabilen Wachstum, getragen u.a. von der günstigen demographischen Entwicklung, also dem sehr hohen Anteil der jungen, arbeitsfähigen und konsumorientierten Bevölkerung und dem enormen Potential (1,1 Mrd. Inder)des Binnenmarktes. Allerdings müssen die Arbeitsplätze erst geschaffen werden und die weitverbreitete Korruption und Bürokratie bekämpft werden. In einem Land, in dem von 1,2 Milliarden Einwohnern nur rund 35 Millionen Menschen Abgaben zahlen, ist es mit der Steuermoral und der Finanzkraft des Staates nicht weit her (FAZ 10.September 2010). Und wie sieht es mit dem sozialem Verantwortungsbewusstsein der Wohlhabenden aus? Verstärken die Gesellschaftsbarrieren des Kastenystems die Unwucht der indischen Gesellschaft, verhindert es sozialen Ausgleich?

Zurück zu den Entwicklungszielen und Vereinbarungen der Vereinten Nationen und den Auswirkungen auf Indiens Kinder. Den allermeisten fehlt auch zehn Jahren danach eine echte Perspektive auf eine sichere Zukunft. Dem Aufschwung in den Metropolregionen wie Mumbai, Hyderabad, Bangalore oder Delhi steht eine überwiegend verarmte Landbevölkerung (ca. 70% der indischen Bevölkerung) gegenüber. Die Landflucht, der Zuzug Millionen verarmter Bauernfamilien in die Großstädte wird deren soziale Probleme noch verstärken. Auch in Mumbai, dem Finanz- und Handelszentrums Indiens, leben nach wie vor über 8 Millionen Menschen in Armenvierteln. Nirgendwo in Indien zeigen sich die sozialen Gegensätze so deutlich wie in der Stadt Prem Dans. Hier trifft unvorstellbarer Reichtum auf unvorstellbare Armut, Millionäre auf millionenfache Not. Mumbais Pläne den größten Slum Indiens, Darawi, gelegen in zentraler und teuerster Lage, dem Erdboden gleich zu machen, verschiebt die Probleme aus der Horizontale in die Vertikale. Die Bewohner Darawis protestieren auch gegen die Zerstörung der gewachsenen sozialen Strukturen im Slum, gegen die Vertreibung der unzähligen Kleingewerbe. Aber zurück zu Prem Dan: für Mumbais Kinder hatten die Maßnahmen in Folge der Milleniumdeklaration noch keine positiven Auswirkungen. Die Anzahl der Slumkinder, die von einer Chance auf eine gute Schulbidung träumen und sich um einen Platz bei Prem Dan bewerben, hat sich seit der Gründung des Programms 1978 und auch zehn Jahre nach Verabschiedung der so genannten Milleniumsziele laut Schwester Felicity nicht verringert.

Leider, wünschten wir uns doch eigentlich nichts mehr, als das durchgreifende Erfolge sichtbar würden, die Lebenschancen und Lebensbedingungen für alle Kinder auf dem Subkontinent sich nach dem Beispiel unserer Kinder bei Prem Dan entwickelten, und unsere Unterstützung letztlich irgendwann einmal überflüssig würde.

 

Quellen: Internetseite des Auswärtigen Amts, Deutsche Bank Research , Frankfurter Rundschau, Der Spiegel, Weltbank, UN-Human Development Report, The Hindu

Milleniumsziele in Indien – Wunsch und Wirklichkeit

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